Mit Jacques Derrida, der Merlau-Ponty weiterdenkt, kann in diesem Zusammenhang eine Art Spur einer absoluten Unsichtbarkeit ausgemacht
werden: „Um das Andere des Sichtbaren zu sein, darf (die Unsichtbarkeit) nicht anderswo stattfinden, noch ein anderes Sichtbares konstituieren, wie
das, was noch nicht erscheint oder eben was bereits verschwunden ist und dessen Schauspiel monumentaler Ruinen die Rekonstruktion wachrufen würde,
das Sammeln des Gedächtnisses, die Vergegenwärtigung. Dieses Nicht-Sichtbare qualifiziert nicht ein anderswo gegenwärtiges, latentes,
imaginäres, unbewusstes, verborgenes, vergangenes Phänomen, sondern eines, dessen Nicht-Erscheinung von einer anderen Ordnung ist.“
Was
bedeutet es nun, wenn ein Sehender die Blindheit zum Gegenstand seiner Kunst wählt? Jacques Derrida geht in seiner Abhandlung über Blinden-Memorabilien
(Jacques Derrida kuratierte 1991 für den Pariser Louvre eine Ausstellung, die er mit Mémoires d‘aveugle betitelte. Der Begriff Mémoires ist
polyvalent, er bedeutet gleichzeitig „Denkwürdigkeiten“ wie auch den Plural von „Gedächtnis“) von der Vorstellung aus, daß auch der Blinde
sehen - im Sinne von vorhersehen - kann. Eine seiner Hypothesen zur Motivik des Blinden beruht auf der Übertragung des Standpunktes der Wahrnehmung: „Die
Zeichnung eines Blinden ist die Zeichnung von einem Blinden“. |
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Als Blindenschrift wäre also auch etwas blind Geschriebenes begreifbar, das zur unlesbaren Chiffre ganz im Sinne von Diderots Liebesbrief
werden kann. Wenn Tim Sharps Malerei auf ersten Blick zwar bildende Kunst für Blinde (und Sehende) ist, finden sich doch auch solch blinde Spuren
des Künstlers selbst, die auf den Akt des Malens hindeuten: willkürlich gesetzte Farbspritzer, dem action painting nicht unverwandt, oder
imaginäre Kalligraphien, die mit routinierter Geste gemalt wurden, eine Art écriture automatique, die nichts bedeutet außer
sich selbst, ein Schriftbild des Autors. Wiesehr der physische Akt des Zeichnens oder Schreibens durch das Absehen vom Primat des Visuellen transformiert
werden kann, zeigt nicht zuletzt die Geschichte des augenkranken, halbblinden Nietzsche, der sich der neuerfundenen
Schreibmaschine anders zu bedienen wusste als seine Kollegen; er setzte nicht auf Schreibtemposteigerung, sondern wechselte von Philosophie zu Literatur,
von Re-Lektüre zum reinen, intransitiven Schreibakt.
Tim Sharp begnügt sich in der Wahl
der Titel seiner Bilder nicht bloß mit Assoziationen, Metaphern, Idiomen oder visuellen Wortbildern (z.B. Tabula rasa, Schneeblind, Pechschwarz,
oder Funkelnagelneu und Heraus mit der Sprache!), sondern bemüht auch Sprachspiele, die phonetisch begründet sind: „I sea sand“ und „Ich
See Sand“ lauten die Titel zweier abstrakter Gemälde, deren Materialien (Wellpappe, Sandpapier) von einer frappierenden Ikonizität sind. |