Sinnesverrückungen

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Auf Meer und Sand verweisen überdies die Farben (beige bzw. karminrot, weiß, marineblau). Man ist versucht, die Reihe der homophonen Paare sea/see, beziehungsweise See/seh weiterzubilden und auch dem „I“ ein gleichlautendes „Eye“ an die Seite zu stellen: „Eye for I“ führte dann hin zum Selbstporträt, das in diesen Bildern steckt.

 

Dadurch dass die Bilder kaum gegenständlich in der Darstellung sind, aber mehrfach Gegenstände oder deren Nachbildung als sich selbstdarstellendes Material verwenden, wird die Konzentration auf Sprachspiele unterstrichen. Hitting the Nail on the Head zum Beispiel führt vom übertragenen auf den wörtlichen Sinn eines sprachlichen Ausdrucks zurück. Das Bild versammelt krumm geschmolzene und gebogene lange Nägel, die in Rechtecke aus rotem Sandpapier und darunter liegendes Holz gerammt sind. Durch die Regelmäßigkeit der Anordnung und die doppelte farbige Rahmung erinnert dieses Bild schließlich von seiner Figuration her an einen Schaltplan. Auch mit Pillow Talk nimmt Sharp einen Titel beim Wort, indem er eine in Blau, Rot, Gelb und Weiß bemalte und mit Knöpfen fixierte Schaumstoffpolsterung gleichzeitig zum gegenständlichen Zitat (ein Möbelteil) und zur Sprache (bzw. zur deren Träger) erklärt.

 

 

Ähnlich wie Pillow Talk erscheint das Bild Space Exploration dem Betrachter auf ersten Blick nicht als Schrift-Bild. Dies allerdings weniger durch seine Materialität, denn durch eine Räumlichkeit, die durch Schattierung, Farbgebung und Figuration entsteht, wie auch über die deutlich dreidimensionale Oberfläche, auf der erhabene Kreise und Krater beziehungsweise Wellen sich abzeichnen. Die für Sehende assoziierbare planetare Landschaft funktioniert nur scheinbar als Miniatur-Relief für Blinde. Denn die Trichter im Papiermaché sind, dem visuellen Eindruck zum Trotz, regelmäßig gesetzt; sie ergeben lesbare Braille-Buchstaben, die wie in einem Vexierbild als solche nicht mehr kenntlich sind, sobald sich der Betrachter auf die räumliche Darstellung konzentriert.

 

Es ist nicht unwesentlich zu sehen und zu fühlen, wie die Braille-Zeichen sich jeweils konstituieren. Manchmal hat die Form der einzelnen „Punkte“ einen mit dem Titel des Bildes zusammenhängenden Zeichencharakter. Versteinerte Flügel und Petrified Wings etwa zeigen in relativ strenger Form die den Wörtern entsprechenden farblich hervorgehobenen Braille-Zeichen, die hier als Gipsabdrücke von Flügelschrauben, also als Negative - wie Naturversteinerungen - entstanden sind. Diese Flügelzeichen verweisen an sich auf die Spur von etwas Dagewesenem, auf einen abwesenden Gegenstand. Sharp zeigt mit diesen „doppelten“ Zeichen, dass das Wort der Code des Nicht-Sehens ist.

 

 

 

Das Gedächtnis, ein Schlüsselbegriff des Unsichtbaren, ist ebenso wie die Wahrnehmung wesentlich von der Funktionsweise der Sinne geprägt. Nicht-Sehende memorieren grundlegend anders als Sehende: Sie prägen sich etwa räumliche Distanzen in bezug auf die zeitliche Dauer ein, die ihr Zurücklegen erfordert. Dieses System der Transposition verursacht bei Menschen, die nach jahrzehntelanger Blindheit wieder sehend werden, große Schwierigkeiten, wie dies Oliver Sacks am Fall Virgil eindrücklich beschreibt. Ehemals Langzeitblinde müssen sich die Welt grundlegend neu aneignen: Sie haben Schwierigkeiten, Augensinn und Tastsinn zu verbinden, sie wissen nicht, ob sie fühlen oder schauen sollen.