Sacks schreibt über Virgil, der als Sehender zunächst einen Hund von einer Katze nicht unterscheiden konnte: „Das Vokabular
von Virgil, seine ganze Sensibilität, sein Weltbild waren in taktilen - oder wenigstens nicht-visuellen - Begriffen
verankert.“ Virgil ging es als enttäuschtem Sehenden alsbald wie Nietzsche, der in Ecce Homo über sich schrieb, daß seine
Sehkraft mit der Lebenskraft ab-, und zunahm. Dies hatte nicht bloß neurologische (Laut Sacks nimmt etwa der ‚Lesefinger‘ von Blinden einen außergewöhnlich
breiten Repräsentationsanteil taktiler Bereiche des cerebralen Cortex ein.) Ursachen. Das erstmalige Sehen-Lernen ist vergleichbar mit dem erstmaligen
Erlernen der Sprache. Die visuelle Neukonstituierung der Welt verursacht insbesondere auch radikale Wechsel der psychischen Funktionen und der Identität. |
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Tim Sharps Bilder bringen etwas von dieser grundlegenden Differenz zwischen zwei Formen menschlicher Existenz ins Spiel. Der
Sprung von einer Welt in die andere ist von beiden Seiten aus denkbar: aus der Perspektive eines die Sehkraft neu Erlangenden, wie sie der Psychiater
und Literat Oliver Sacks beschrieb; oder aus der Perspektive eines Erblindenden, wie sie Friedrich Nietzsche beschrieb, der als Umnachteter starb und
der sich als Schattenexperte bezeichnete, als Doppelgänger, als einer, dem der „zweite“ Blick eignete.
Christa Blümlinger, Paris, November 1999 |