Bilder zum Begreifen

EXIT

 

Schon beim Eingang verkündet ein Schild: „Bilder bitte nicht anfassen - danke“. Eine wohlbekannte Aufforderung, diesmal aber aus ganz anderen Motiven formuliert, denn man hat das starke Bedürfnis, die Materialien anzufassen, wie mir meine Kolleginnen erklärten. Für blinde Besucher gilt diese Aufforderung natürlich nicht, denn eigentlich handelt es sich um Bilder zum Anfassen. - Und das ist keineswegs ein Widerspruch.

 

Wir nähern uns also voller Spannung dem ersten Bild, und ich frage meine sehende Kollegin, was es darstellt. Sie überlegt und meint dann: „Lauter Nägel, die spiralförmig gedreht sind, stecken in einer Holzplatte.“ Ich will selbst fühlen und finde bestätigt, was sie sagt, merke aber, dass die Anordnung der Nagel eine Art Muster ergibt. Nein, eigentlich kein Muster; es ist vielmehr die für die Blindenschrift typische Anordnung in 6 Punkten, zwei in der Waagrechten, drei in der Senkrechten. Aber nicht alle Positionen sind „besetzt“. Jetzt, wo ich das System erkannt habe, fällt es mir nicht mehr allzu schwer, die Botschaft zu entschlüsseln. „Funkel-nagel-neu“ lese ich stockend wie ein Erstklassler, der mühsam seine ersten Worte entziffert. [...]

 

Das nächste Bild ist für meine sehenden KollegInnen weiß und leer. Es ist mit einer dünnen Folie bespannt, und als ich ein bisschen drücke, gibt die Folie nach und ich fühle kleine Erhabenheiten - wieder Punktschrift. Diesmal lautet der Bildtitel „unsichtbare Botschaft“. Klar, was sonst! Es ist ja wirklich nichts zu sehen, und die Botschaft ist im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar, aber nicht „unbegreiflich“. Und so enthüllt ein Bild nach dem anderen seine für den sehenden Betrachter nicht lesbare Botschaft gerade jener Personengruppe, die normalerweise keinen oder nur einen eingeengten Zugang zu Bildern hat.

 

Und dass der Künstler sich über die Wahrnehmungsmöglichkeiten blinder Menschen Gedanken gemacht hat, zeigt auch das tastbare Leitsystem am Holzfußboden, das zu den einzelnen Werken hinführt.

 

Eines der Werke, in Blitzblau gehalten, bestehend aus einer Art Wellblech, jedoch aus Kunststoff, am unteren Rand ein verklebter Pinsel, spricht meine Kolleginnen besonders an. Es enthüllt nach einigem Suchen die Beschriftung „Dauerwelle“. [...]

 

Und dann gesellt sich plötzlich ein weiterer Ausstellungsbesucher zu uns. Er hat begriffen, dass er die Bildtitel selbst nicht lesen kann und schließt sich kurzerhand uns an; „damit mir nichts entgeht“, sagt er mit einem entschuldigenden Lächeln. [...]

 

Ich war schon in einigen Ausstellungen und habe mir häufig von meinen BegleiterInnen Bilder erklären lassen, aber mit einer Ausnahme - als mir nämlich in den Uffizien in Florenz ein Kunstprofessor die Bilder wortreich und fachkundig beschrieben hat haben diese Erklärungen nie das Betrachten der Bilder ersetzt, haben diese nie zu mir „gesprochen“. Diesmal bin ich zum ersten Mal in die Betrachtung mit einbezogen gewesen, eine unglaubliche Erfahrung, wenn man schon mehr als 20 Jahre keine Bilder mehr sehen kann. [...]

 

Eva Papst