Sinnesverrückungen

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Denis Diderot schreibt 1749 in seinem berühmt gewordenen Brief über die Blinden der den bezeichnenden Untertitel Zum Gebrauch für die Sehenden trägt, dass ein Blinder in einer Welt ohne Mangel zu leben vermag: Das ‚Problem‘ seiner Blindheit und der Wunsch, diese zu heilen, läge zumeist auf Seiten der Sehenden. Diderot, Theoretiker einer von Blindheit bedrohten Mimesis, wusste sogar einen Liebesbrief mit verbundenen Augen zu verfassen: „Ich schreibe, ohne zu sehen“, heißt es in einem Brief an Sophie Volland vom Juni 1759: „... ich fahre fort, mit Ihnen zu reden, ohne zu wissen, ob ich Buchstaben forme. Lesen Sie überall, wo nichts steht, dass ich Sie liebe“.

 

Das Wort selbst, als etwas Ausgesprochenes, ist freilich unsichtbar. Es existiert als akustisches Phänomen vor allem in der Zeit, weniger im Raum. Es wird aus dem Nicht- Sehen- Können geboren, ein Umstand, dem Tim Sharps Bilder für Blinde und für Sehende dadurch Rechnung tragen, dass ihre "Titel" nur als Braille-Chiffre lesbar sind, als in die Bilder selbst integrierte, haptisch vermittelte Botschaften. Diese konzeptuelle Geste führt inmitten die seit Diderot immer wieder neu problematisierten Differenzen zwischen Sagbarem und Sichtbarem, zwischen Sichtbarem und Unsichtbaren, zwischen Wahrnehmung und Erinnerung.

 

Die Materialien, mit denen Tim Sharp arbeitet, verlocken zum Befühlen. Doch nur blinden Ausstellungsbesuchern ist es gestattet, ihrem Tastimpuls nachzugeben. Dieser ungewöhnliche Zugriff auf die Bilder ermöglicht es, rauhe oder glatte Holzdübel zu ertasten, baumwollbespannte Knöpfe, baumelnde Steine, pigmentgefüllte Glasfläschchen, verbogene Nägel, fixierte Sägespäne, übermaltes Schmirgelpapier. Die Vielgestaltigkeit der Oberflächen ist also für die einen mit den Fingerkuppen, für die anderen mit den Augen erfahrbar.

 

Die beinahe quadratischen Bilder sind so gehängt, dass sie für Blinde mit den Armen leicht und vollständig erfassbar sind. Nach einiger Zeit werden die so „gelesenen“ Objekte eine Patina erhalten, die diesem haptischen Kunstgebrauch entspricht und gleichzeitig ein Index für den Modus einer anderen, „zweiten“ Vision ist.

 

Die Idee der Integration dieser „anderen“ Vision in die Malerei hat mehr mit Vorstellung als mit Wahrnehmung zu tun. Sie findet ihre Entsprechung durchaus auch in der Literatur, etwa in Hervé Guiberts Roman Les Aveugles, der mit der allegorischen Beschreibung eines Karnevals der Blinden beginnt: Dort tragen die Besucher eines Maskenballs knisternde, doch farblose Kostüme, formlose Masken und Capes, die keine Menschen, sondern Naturgewalten repräsentieren. Inmitten dieses unvorstellbaren Festsaales findet sich eine Tafel mit der Aufschrift „Kostümpflicht“. Wer aber, so die Frage Guiberts, kann diese Aufschrift lesen? Und welcher Gast kann sich für die anderen sichtbar demaskieren, durch das Fehlen eines Kostüms? Was hier als eindrückliche Differenz zwischen der Vorstellung des Lesers und der Wahrnehmung der Romanfiguren gezeichnet wird, klingt auch in Sharps entgegenständlichter Malerei als Grundvoraussetzung an: Materialität und Oberfläche haben hier eine andere Wertigkeit als in bloß visuell lesbaren Bildern; der Kunstbetrachter ist aufgefordert, seine Blick- und Vorstellungsposition zu überdenken.
 

 

Im Mittelpunkt der Serie steht also der Tastsinn, als eine mit dem Augensinn nur bedingt korrelierende Wahrnehmungsform eines Bildes, geradezu als radikale Infragestellung des Bildlichen. Das Taktile verbindet heute mehr denn je Bereiche der Kunst, des Wissens und der Technologie. Im weitesten Sinne geht es hier also auch um die Beziehung von Körper und Bild, wie sie seit dem 19. Jahrhundert in einer beschleunigten Form mediale Erfahrung bestimmt - von der Eisenbahn über die Telegraphie bis zum Kino und den digitalen Bildmedien.