Giovanni Moratelli, Italiener
Ich habe hier ein Verzeichnis sämtlicher Mitglieder der Genossenschaft der Scharfschleifer von Wien aus dem Jahr 1919. Das liest sich wie ein italienisches
Telefonbuch. Ganz vereinzelt österreichische Namen, ansonsten ausschließlich Italiener. In Wien gab es vor dem ersten Weltkrieg über
hundert Scherenschleifer, die alle aus dem Rendenatal in Südtirol gekommen waren. Unter ihnen war auch mein Vater. Schleiferer wurde sie genannt.
Als Vierzehnjähriger ist er im Jahre 1902 mit seinen zwei älteren Brüdern und einem Schleifkarren aus dem Tal ausgewandert. [...] Diese
Region Südtirols war damals sehr arm. Die Familien sind eher groß gewesen, und die Landwirtschaft alleine konnte sie nicht ernähren Da
hatte dann einer die Idee, es mit dem Scherenschleifen zu versuchen. [...] und fand so viele Nachahmer, [...] dass den Leuten nichts übrig blieb,
als aus dem Tal auszuwandern, [...] in die Schweiz, nach Österreich oder nach Bayern und Mitteldeutschland. |
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Von Justino aufwärts entschieden sie
sich für England oder sogar für Nordamerika. [...] Mein Vater und seine zwei Brüder haben damals acht Monate gebraucht, bis sie schließlich
in der Residenzstadt Wien anlangten. Weil das Trentino bis unterhalb Riva damals zu Österreich gehörte waren sie natürlich österreichische
Staatsbürger. Mein Vater hat, weil er kein Wort deutsch konnte, die Kaiserhymne immer auf italienisch gesungen. [...] Schließlich haben sie
eine kleine Werkstatt eingerichtet. Dann kam der Krieg und mein Vater musste zu den Kaiserjägern einrücken. Er wurde in Russland verwundet
und kam auf Umwegen wieder nach Italien. Dort wurde er repatriiert und im neunzehner Jahr kehrte er in sein Geschäft nach Wien zurück. Italiener
ist er dann Zeit seines Lebens geblieben. Als Österreicher ist mein Vater in Südtirol geboren, und als Italiener ist er in Österreich
gestorben.
Walter Eckermann
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